Meine 7000 Nachbarn by Eva Ruth Wemme

Meine 7000 Nachbarn by Eva Ruth Wemme

Autor:Eva Ruth Wemme [Wemme, Eva Ruth]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783957321114
Herausgeber: Verbrecher Verlag
veröffentlicht: 2015-04-28T16:00:00+00:00


Zehn Stunden Neukölln

Um zehn fragen mich die Polizeibeamten, ob ich Zugang zu den Überwachungskameras im Hof der Sorgen habe. Eine Frau ist überfallen worden, zum Glück hat ein Nachbar den Mann verjagt, bevor er ihr die Bluse aufriss. Leider kann ich nicht helfen. Die Polizeibeamten wollen sich mit mir zum Kaffee verabreden. Sie gehören zu einer Sondereinheit für Verbrechen, die an Roma begangen werden.

Dieselbe Frau hat außerdem ein gepfändetes Konto, denn sie verdient kaum etwas und dieses Etwas wird nicht gezahlt. Ihr Mann hat sie verlassen. Sie schreibt mir SMS. Jeden Tag schreibt sie, dass sie mich umarme und dass sie Hilfe brauche, dass ihre Kinder Essen brauchten, dass sie sich etwas habe leihen müssen und niemand ihr mehr etwas leihen wolle, dass sie die Adresse für die Lebensmittelausgabe noch einmal brauche, dass sie zum Notar müsse, zur AOK müsse, zum Gericht müsse, zum Jugendamt müsse, zum Arzt müsse. Sie ist sehr nett und sagt: »Es regnet, meine Teure, ich leihe dir meinen Schirm.«

Andere Männer und Frauen reichen mir Briefe, die sie nicht verstehen. Eine Frau wartet drei Stunden vor dem Beratungszimmer, weil sie glaubt, ich bin von der Caritas und würde einen kostenlosen Sehtest machen. Ich schüttele den Kopf. Sie sagt: »Oh, das tut mir leid, dann habe ich mich wohl geirrt«, und geht unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Stromrechnungen, Ratenzahlungen, keine Antwort vom Jobcenter, von der Elterngeldstelle. Eine Mutter kommt mit ihrem Sohn. Er ist in Rumänien operiert worden und hat seit Monaten eine Schraube im Bein. Sie ist nicht versichert. Sie weint, sie sagt, ihr Herz breche, sie könne in diesem Dunkel nicht mehr leben. Auch sie versorgt allein ihre Familie. Ihr Mann ist arbeitsunfähig.

Eine Frau bittet mich, das Jugendamt anzurufen und zu erklären, dass ihr Sohn keine Sozialstunden ableisten könne, weil er nach Rumänien gefahren sei. Einfach so. Er ist siebzehn, und er ist wieder bei den Großeltern im Dorf. Sie habe ihn nicht überreden können, in Berlin zu bleiben, weil er verliebt sei und seine Freundin vermisst habe. »Die Liebe«, sage ich also ins Telefon, »hat den Jungen nach Rumänien zurückgeholt.« Der Mann vom Jugendamt lacht und streicht den Jungen aus seinen Akten.

Eine Mutter ruft an und weint, ihr Kind ist von der Schule weggegangen und verschwunden. Wir suchen das Kind. Es ist nirgends zu finden. Wir rufen die Polizei. Die Mutter weint durchs Telefon, alle Roma im Beratungszimmer hören mit und sagen: »Mir stockt das Herz, die arme Frau!« Nach zwei Stunden ist das Kind gefunden. Es ist zur Tante gelaufen, obwohl es sich in Berlin gar nicht auskennt. Das Kind weint in der Schule, weil es nichts versteht. Es will nicht mehr in die Schule gehen.

Ein Mann kommt mit einem Brief von der Elterngeldstelle. Die Elterngeldstelle ist ein Thema für den Stammtisch aller Beraterinnen und Berater. Sie denkt sich immer neue Papiere aus, die sie dringend braucht, um Elterngeld zu zahlen. Es sind Papiere, von denen wir noch nie gehört haben und von denen wir wissen, dass sie eigentlich auch nicht existieren.

Ein Mann kommt und möchte, dass ich einen Brief an den Richter schreibe, zu dem er morgen geladen ist.



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